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Wassmo-Deutschenkind

Herb­jørg Wassmo
» Deut­schen­kind

Autor:Herb­jørg Wassmo (Nor­we­gen, 1981)
Titel:Deut­schen­kind
Aus­gabe:Argu­ment Ver­lag, 2012
Erstan­den:Pan­ke­buch, Berlin-Pankow

Wassmo-Deutschenkind

Zunächst wie­der Ärger über den irre­füh­ren­den deut­schen Titel (in der Neu­auf­lage), denn um nor­we­gi­sche Kin­der von deut­schen Besat­zungs­soldaten geht es hier weni­ger. Wa­rum ließ man nicht den Ori­gi­nal­ti­tel »Huset med den blinde glass­ve­randa« – we­sen­t­lich näher am Buch­in­halt? – Dies ist der erste Teil der sog. »Tora Tri­lo­gie«, ein drei­bän­di­ges Werk, mit dem die ehe­ma­lige Leh­re­rin Wassmo sich in die erste Rie­ge der skan­di­na­vi­schen Autoren geschrie­ben und dafür die höchste Auszeich­nung des nor­di­schen Rats erhal­ten hat. Zur Autorin schreibt die nor­we­gi­sche Wiki tref­fend: Es geht ihr in ers­ter Linie um die Frauenper­spek­tive und die Reali­täten des Lebens im Nor­den Norwegens.

Dabei ist das in aller psy­cho­lo­gi­schen Beklem­mung über­deut­lich gemachte Inzest-Gesche­hen der Haupt­fi­gur wahr­lich nichts für schwa­che Ner­ven und keine leichte Lek­türe. Aber wie Herb­jørg Wassmo die­ses schwie­rige Thema her­über­bringt, ist unglaub­lich gelun­gen, ein für sich spre­chen­des und her­aus­ra­gen­des Buch. Das sich schon nach den ers­ten Sei­ten bezau­bernd ein­fühl­sam zeigt, selbst bei dem gemein­sa­men Klo-Gang (Außen­plumps­klo!) der Mäd­chen, der plas­ti­schen Land­schafts­be­schrei­bung und dem Sujet frühe Sexua­li­tät: Wie sich der Kör­per der jun­gen Tora in einen Frau­en­kör­per ver­wan­delt und wie sie das ver­un­si­chert. Was für eine Erzäh­le­rin und Beob­ach­te­rin die Wassmo ist, wenn sie über eine Wäsche­leine und ihr Land schreibt: »In Bezug auf die Unter­wä­sche besteht ein gro­ßer Unter­schied zwi­schen einem Nord- und einem Süd­nor­we­ger« . Wie genau die Unter­schiede zwi­schen Arm und Reich gezeich­net sind. Gera­dezu spre­chend beschrie­ben die Armut aller Kin­der in Toras Haus, die »Tau­send­heim Bande«. Wo man in drang­vol­ler Enge jedes Leben der Ande­ren mit­be­kommt, auch als die Mut­ter ihrer Freun­din ob einer Tot­ge­burt durch­dreht und die 14-jäh­rige Freun­din nun sechs Kin­der hüten muss. Dabei ist eine Zucker­stulle aus fri­schem Brot das Größte für alle – welch Kind­heits­er­in­ne­rung. Die Mut­ter, die Tora abends alleine las­sen muss, um Geld zum Leben zu ver­die­nen. Was ihr Stief­va­ter zum Miss­brauch benutzt, und die rot­haa­rige Außen­sei­te­rin hört, wie ihre Mut­ter als »Deutschen­hure« beschimpft wird. Dabei war ihr Lieb­ha­ber und Toras Vater gar kein akti­ver Sol­dat. In all­dem fin­det Tora Zuflucht bei dem mensch­lich-war­men, aber kin­der­lo­sen Paar Simon und Rakel: »Als sie end­lich ins Bett kamen, war Rakel wie eine vibrie­rende Wiese nach einem war­men rie­seln­den Früh­lings­re­gen« – ver­rückt schön! Was bleibt der ver­ge­wal­tig­ten Tora in der kaput­ten Welt von ihr und Ingrid (Mut­ter), als mit grau­sa­mer Freude dem (Fast-)Ertrinken des pei­ni­gen­den Stief­va­ters zuzu­se­hen? – Dabei ist dies auch eines der schöns­ten Bücher, dem es gelingt, das Gefühl des Kind­seins in den Erwach­se­nen zurück zu holen. Fas­zi­nie­rend der Aus­weg der Wunsch­träume, in die Tora sich aus Trost­lo­sig­keit ver­senkt, ihre Sorge, dass sie aus die­sen Träu­men her­aus­wächst. Ein sehr inten­si­ves Buch, das man eher in klei­nen Abschnit­ten lesen sollte.

Spit­zen­li­te­ra­tur

2016 rezensiert, Argument Verlag, Frauenemanzipation, Herbjørg Wassmo, Norwegen, Tora Trilogie