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Cover-Leben

Gusel Jachina
» Wo viel­leicht das Leben wartet

Autorin:Gusel Jachina (Russ­land, 2021)
Titel:Wo viel­leicht das Leben wartet
Über­set­zung:Hel­mut Ettinger
Aus­gabe:Auf­bau Ver­lag, 2022, 1. Auflage
Erstan­den:Buch­hand­lung Thaer Ber­lin Frie­denau, Tipp im »ND«

Cover-Leben

Es war ein Tipp der lang­jäh­ri­gen Kul­tur­re­dak­teu­rin der Ber­li­ner Tages­zei­tung »nd«, Irm­traut Gutschke, die mich zu die­sem Buch brachte. Die das Buch und die Autorin sogar im nd-Lite­ra­tur­sa­lon am Ber­li­ner Franz-Meh­ring-Platz öffent­lich vor­stellte: Gusel Jachina, eine rus­si­sche Autorin tata­ri­scher Abstam­mung mit dem 2021 in Mos­kau erschie­nen Roman »Wo viel­leicht das Leben war­tet«. Der das Schick­sal in 1923 eines impro­vi­sier­ten, aus dem nichts geschaf­fe­nen Zuges ent­hält, mit dem 500 ver­wahr­loste, halb ver­hun­gerte Kin­der aus Kasan ins ret­tende Samar­kand, Tur­ke­stan trans­por­tiert wer­den. Wo es Wärme und Brot gibt, in einer Zeit Anfang der zwan­zi­ger Jahre, als es in den fern­öst­li­chen Wol­ga­re­pu­bli­ken der Sowjet­union nach dem Sturz des Zaris­mus durch die Okto­ber­re­vo­lu­tion, der Kata­stro­phe des Welt­kriegs, den Bür­ger- und Inter­ven­ti­ons­krie­gen und einer bru­ta­len Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft zu mas­sen­haf­ten Hun­gers­nö­ten kam. Mit geschätzt 5 Mil­lio­nen Toten.

Was beson­ders eltern­lose, im Stich gelas­sene, her­um­streu­nende, ver­wahr­loste Kin­der, in sehr schlech­ten Gesund­heits-Zustän­den trifft. Zwei sehr unter­schied­li­che Cha­rak­tere, der Zug­kom­man­dant und ehe­ma­lige Rot­ar­mist Dejew, sowie die pro­fes­sio­nell mit der Betreu­ung ver­wahr­los­ter Kin­der beauf­tragte Kom­mis­sa­rin Belaja sind es, die 500 Kin­der in einer aben­teu­er­li­chen mehr­wö­chi­gen Zug­reise ins ret­tende Tur­ke­stan (Turk­me­ni­stan) brin­gen sol­len. Wobei es an allem fehlt, an Bahn­wag­gons, Lebens­mit­teln, Schuhe, Klei­dung, Was­ser, Brenn- und Heiz­ma­te­rial – ein Kampf um alles, 4-6 Wochen lang in einer viel­fach zer­stör­ten, aus­ge­hun­ger­ten noch immer nicht befrie­de­ten asia­ti­schen Region der Sowjet­union. Eine Schar klei­ner Men­schen aus Russ­land, Kasan, Usbe­ki­stan, Kir­gi­sien, klei­nen Tschu­wa­schen, Tata­ren, eine Viel­völ­ker­mi­schung auf Rei­sen. Die als vor­han­dene Spra­chen im Zug zäh­len: Rus­sisch, Tata­risch, Tschu­wa­schisch, Basch­ki­risch, Ukrai­nisch, rus­si­sche Dia­lekte aus Sibi­rien, Mari-El, Udmur­tien …; ein Paar der Betreuer muss immer min­des­tens zwei Spra­chen spre­chen. Denn nichts haben diese Kin­der — nur ihre Sprache.

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Gusel Jachina
© George Kardava-2022-2881

Schon die füh­ren­den Prot­ago­nis­ten, der Kom­mando-gewöhnte, sehr emo­tio­nale Zug­füh­rer Dejew und die päd­ago­gisch und orga­ni­sa­to­risch ver­sierte, kühle Kom­mis­sa­rin Belaja, sor­gen immer wie­der für fun­ken­sprü­hende Zusam­men­stöße, doch sie sind am Ende hilf­reich. Ste­hen sie doch in einer unend­li­chen Sorge um die klei­nen Men­schen, mit unend­li­chen Schwie­rig­kei­ten kon­fron­tiert, aber auch in einer oft schwer wider­sprüch­li­chen Zusam­men­ar­beit, in die sich auch ero­ti­sche Fun­ken mischen. Dejew wird immer wie­der vom Mit­leid über­wäl­tigt, nimmt zu viele Kin­der auf, die nüch­terne Kom­mis­sa­rin erin­nert ihn immer wie­der daran, rea­lis­tisch zu blei­ben. Es ist auch sie, die den z.T. völ­lig ver­roh­ten Kin­dern Paroli und damit einen Halt bietet.

Auch ero­ti­sche Fun­ken knis­tern immer wie­der zwi­schen Dejew und der Belaja auf, eine Nacht schläft sie mit ihm, ihn zu beru­hi­gen, er ist vor Anspan­nung durch­ge­dreht. Am Ende fäl­len beide ihre Bezie­hungs-Ent­schei­dun­gen, durch­aus über­ra­schend, aber das soll hier nicht ver­ra­ten wer­den. Wobei Dejew ein­schätzt, S. 502: »Die Kom­mis­sa­rin ist ein Mes­ser, ein Rasier­mes­ser … sie kann man nicht lie­ben, höchs­tens begehren.«

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Das Cover ihres ers­ten Romans
© Auf­bau Verlag

Zu die­sen bei­den Prot­ago­nis­ten tritt der präch­tige, rie­sige, fast 70jährige Feld­scher Bug, ein Sani­tä­ter mit medi­zi­ni­schen Fähig­kei­ten und ein jun­ges Bürsch­chen, Memelja, der kochen soll, Analpha­bet ist, nur lei­der kein Rus­sisch ver­steht, das aber als »Espe­ranto« im Völ­ker­ge­misch des Ret­tungs­zu­ges dient. Essen wird an unter­schied­li­chen Orten bei den »Lager­rat­ten« requi­riert, not­falls mit der Tscheka (Geheim­po­li­zei) gedroht, das hilft immer.

Die Betreue­rin­nen der Kin­der, auch eine bunte Mischung, Zim­mer­mäd­chen, Schnei­de­rin, Popen­frau und eine tata­ri­sche Fürs­tin Fatima Sulej­man, deren bota­ni­schen Gar­ten die Pferde der Armee auf­ge­fres­sen haben. Als Lok­füh­rer wird der genom­men, der am wenigs­ten säuft …

Schon ein­gangs gibt es eine für den gan­zen Roman prä­gende Szene: Die Kin­der müs­sen durch den Schnee zum Zug lau­fen, haben aber keine Schuhe. Es gelingt, den ört­li­chen Kaser­nen­kom­man­dan­ten zu über­re­den, für 2 Stun­den die Stie­fel von 500 Sol­da­ten zu lei­hen, in denen die Kin­der dann zum Zug stol­pern kön­nen. Als die Sol­da­ten das Elend sehen, spen­den sie spon­tan ihre Unter­hem­den, die Kin­der besit­zen keine Unterwäsche.

Bereits die­ser Sieg der Mensch­lich­keit, der Gefühle über Regeln und Vor­schrif­ten, zum Wohl der Kin­der ist ein prä­gen­des Merk­mal für den Ver­lauf der wei­te­ren mehr­wö­chi­gen Reise. Genauso wie ein Dis­put zwi­schen Bug und Dejew über die Sinn­haf­tig­keit, auch kranke Kin­der mit­zu­neh­men. Selbst ein Neu­ge­bo­re­nes (Kind Nr. 501) trifft in einer dra­ma­ti­schen Szene auf Dejews Mit­leid, dazu wird eine Amme etwas grob »requi­riert« und nach deren Abgang hilft sogar eine säu­gende Hün­din (!) beim aben­teu­er­li­chen Über­le­ben des kleins­ten Men­schen­kinds. Sie hört fortan auf den Namens »Die kapi­to­li­ni­sche Wöl­fin«. Kin­der ver­schie­dens­ter Alters­stu­fen, selbst schwan­gere Mäd­chen (13) sind im Zug, die erhal­ten dop­pelte Ration.

Wolgakinder
Cover des zwei­ten Romans von Gusel Jachina; Auf­bau Taschen­buch
© Auf­bau Verlag

Zug­kom­man­dant Dejew aber, der ein schreck­li­ches Geheim­nis in sei­nem Leben birgt, bewegt nur eines, S. 94: ». …brachte Kin­der von einem Ort des siche­ren Todes dort­hin, wo viel­leicht das Leben auf sie wartete.«

Die Belaja ist es, die in einer ein­drucks­vol­len Szene den Ver­wahr­los­ten die kla­ren Regeln erklärt und auch Gegen­wehr auf heim­tü­cki­sche Gerüchte weiß. Dabei kommt es zu einer der schreck­lichs­ten Sze­nen, als sich ein 8/9 jäh­ri­ges Mäd­chen dem Dejew mit ihrer klei­nen Kör­per­lich­keit anbie­tet, das ist das, was ihr Leben sie gelehrt hat. Doch Dejew will nur die Ursa­chen der Gerüchte her­aus­fin­den, sie aber wis­perte vor ihrer ver­such­ten Pro­sti­tu­tion nur »… nicht schla­gen, bitte nicht schlagen …«

Es ist ein Buch der saft- und kraft­vol­len Sze­nen, etwa wenn ein voll besof­fe­nes Tsche­kis­ten­kom­mando Säcke vol­ler Lebens­mit­tel dem Kin­der-Zug lie­fert: Eier, Milch, Brot, alles in einen Sack gestopft. Und weil keine Zeit war, Obst zu pflü­cken, den Apfel­baum aus­ge­ris­sen hat und oben auf den Zug­ten­der packt. Oder eine Bande ver­roh­ter Kosa­ken den Zug stür­men, aber nur weil deren Ata­man den mit­ge­führ­ten Wag­gon mit inte­grier­ter Kapelle zu einer (letz­ten) Andacht nut­zen wol­len, ihre Zeit ist abge­lau­fen. Viel­leicht brin­gen sie des­we­gen statt Ter­ror und Ver­wüs­tung über­reich­lich Lebens­mit­tel, Klei­dung, Decken, einer der Wil­des­ten deckt mit sei­nem Umhang ein frie­ren­des Kind zu.

Und als wenn der Hin­der­nisse nicht genug wären, bricht die Cho­lera im Zug aus, wobei man erfährt, dass die schon 20 Jahre in Russ­land wütet, wie­der ein zaris­ti­sches Erbe. Wie sie auch damit, zunächst ohne Medi­ka­mente fer­tig wer­den, ist wie­der einer von vie­len gro­ßen Abschnit­ten des Romans. Der wirk­lich nie Lan­ge­weile oder Flach­heit auf­kom­men lässt. 40 kleine Men­schen rafft die Cho­lera dahin, nur mit der Auf­lis­tung ihrer Spitz- und Ruf­na­men erzeugt die Jachina Gän­se­haut beim Leser. ein Aus­schnitt: Ibra­him aus Kasan, Rot­barbe, Skor­but-Sonja, Kas­sim vom Bahn­hof, Lang­fin­ger-FirsLjoscha Pfütze, Rüpel Klappe Zu, Dicke Habiba, Frost, Kok­se­rin Cosette – jeweils an unter­schied­li­chen Stand­ort­gen zurück gelassen.

Karte
Die Karte im Buch, die die Reise der Kin­der zeigt
© Auf­bau Verlag

Die Belaja wird in weni­gen star­ken Abschnit­ten cha­rak­te­ri­siert, keine fes­ten Bezie­hun­gen, unfrucht­bar, von Män­nern eher gelang­weilt, sie auf ein­ma­lige Begeg­nun­gen beschrän­kend, ursprüng­lich aus dem Klos­ter kom­men keine eige­nen Kin­der, aber, S. 166: »Bela­jas große Liebe galt nicht einem ein­zel­nen kon­kre­ten Spröss­ling, son­dern den Hun­der­ten und Tau­sen­den sowje­ti­scher Kin­der, denen die schwe­ren Zei­ten das Zuhause und die Für­sorge der Eltern genom­men hat­ten. « – Womit die Autorin eine exakt dem dama­li­gen Zeit­geist ent­spre­chende Cha­rak­te­ri­sie­rung getrof­fen hat. Und zeigt, dass die Belaja in der Kin­der­für­sorge (im zen­tra­len Auf­trag aus Mos­kau) seit 1918 ihre Beru­fung gefun­den hat. Und dabei erlebt, wie Leute vor Hun­ger ver­rückt wur­den, ihre Kin­der ersti­cken, damit diese nicht län­ger lei­den müs­sen. Was (S. 193/94) in einem Tscheka-Bericht über Hun­ger, Elend, Ster­ben und das Aus­maß der Kata­stro­phe sei­nen Nie­der­schlag fin­det. Die Tscheka war damals stark im Kampf gegen Elend und Hun­ger invol­viert, ihr unter­stand auch die äußerst hilf­rei­che Kin­der­kom­mis­sion. Und es fußt auch auf Bela­jas Ideen, ver­elen­dete Kin­der per Zug in Regio­nen zu brin­gen, wo ihnen gehol­fen wer­den kann, der jet­zige Zug ist ihr 10. in nur 16 Mona­ten. Zu der Zeit, so heißt es, zog ganz Russ­land nach Tur­ke­stan, Tasch­kent nennt man jetzt »die Stadt des Brots.«

Was gibt es alles noch an ein­drucks­vol­len Par­tien im Buch, als Gleb und Dejew ihr Leben aus­tau­schen, anders ist der stän­dige Über­le­bens­druck nicht mehr aus­zu­hal­ten? Die sur­rea­len Sze­nen, als Dejew allein in die Wüste geht, um Hilfe zu holen. Eine Bas­matschen­gruppe, die die ganze »Gir­lande« ret­tet, um dann den umlie­gen­den roten Trup­pen die Köpfe abzu­schnei­den. Mit deren zer­hack­ten Uni­for­men lie­fern sie der »Gir­lande« neues Heiz­ma­te­rial. Die Dra­ma­tik stei­gert sich zum Abschluss erneut, der Abwechs­lungs­reich­tum ist enorm.

Jachina gibt im Buch wie auch in einem Inter­view (s. Anhang) der radi­ka­len Beschaf­fungs­po­li­tik der »Pro­di­jarma« der Bol­sche­wis­ten einen wesent­li­chen Schuld­an­teil am Hun­ger und dar­aus ent­ste­hen­dem Elend und Revol­ten. Um ein Stück zu essen, wer­den Schlach­ten geschla­gen und ein wei­te­rer Höhe­punkt ist die fes­tungs­ar­tige Lebens­mit­tel-Sam­mel­stelle in das Dejew zur Essens­be­schaf­fung kommt. In wirk­lich gru­se­lig-düs­te­ren Sze­nen muss er seine ganze, aus der Roten Armee gefes­tigte Kom­man­dan­ten­per­sön­lich­keit ein­set­zen, letzt­lich klappt’s nur, weil er selbst ein­mal für die Pro­di­jarma tätig war – was wie­derum zum düs­te­ren Teil sei­ner eige­nen Geschichte gehört. In an Span­nung pri­ckeln­den Sze­nen gelingt es ihm einen »Über­schuss«, also etwas was in den Lis­ten der Pro­di­ja­ram noch nicht erfasst ist, zu ergat­tern – ein unge­bo­re­nes Kalb! Das ihm, da bei der Geburt anwe­send, ver­traut, und dass er stante pede erschie­ßen muss, Nah­rung für seine Kinder!

Die Autorin spart auch nicht aus, dass die Prot­ago­nis­ten in vie­lem macht­los waren, S. 261: »Auch der kühnste und erfolg­reichste Mensch konnte den Kin­dern des Zuges keine neue Ver­gan­gen­heit geben.« Aber im Ver­hält­nis zu den Kin­dern galt, S. 263: »Hier han­delte es sich um eine Brü­der­lich­keit zwi­schen Men­schen, die stär­ker war als Mit­leid und Schuld.

Und was für eine Gestalt ist der sprach­lose Streu­ner, den Dejew von den Schie­nen liest mit den Wor­ten »Was machst Du hier Bru­der?« Der kein Wort spricht, sich unter Dejews Prit­sche ver­kriecht und ihm folgt wie ein Hünd­chen. Wie­der ein see­lisch völ­lig kaput­tes Kind, das den Namen »Sag­re­jka« bekommt. Und des­sen spä­tere Erin­ne­run­gen vom völ­li­gen Ver­las­sen­sein kaum aus­zu­hal­ten sind. S. 360: »Viel­leicht war ich tat­säch­lich krank. Aber es kann auch sein, dass der Krieg in mir tobte, wie eine Krankheit.«

Es ist ein schö­nes Buch, voll wun­der­vol­ler rus­si­scher Namen, Gir­lande heißt der Zug und was für Kin­der­na­men. S.287: »Sjawka Wagen­schie­ber … Lang­fin­ger Foma, Schie­ber Orest, Sason Hals­ab­schnei­der – viele tru­gen ihre Spitz­na­men wie eine Erwerbs­bio­gra­fie vor sich her. Auf zwei Säu­len ruht das Leben die­ser klei­nen Exis­ten­zen: »Glück« auch »Erfolg« genannt und »Wir«, das für jede Form des selbst­ent­wi­ckel­ten Zusam­men­le­bens steht, auch für das im Zug.

Beglü­ckende Sze­nen, als im Zug das »Hei­rats­fie­ber« in der Gir­lande aus­bricht, »Pom­pa­dour hei­ra­tet Schwälb­chen«. Die Kin­der spie­len nicht nur Hei­rat, sie spie­len auch Part­ner­schaft, als wenn ein gro­ßes Stück Leben zu Ihnen zurückkehrt.

Es wird nicht ver­schwie­gen, wie im Zug alle an ihre Gren­zen kom­men, der Situa­tion geschul­det. Grau­sam nüch­tern resü­miert die Kom­mis­sa­rin, S. 373: »Im Wol­ga­ge­biet hun­gern neun Mil­lio­nen Kin­der, wenn wir 6 Mil­lio­nen ret­ten – ist das denn wenig?«

Was treibt die Ret­ter eigent­lich an? Der alte Bug hält Dejew vor, dass des­sen Seele durch den Krieg ver­krüp­pelt ist. Deine Antriebe sind große Ver­zweif­lung und gro­ßer Schmerz. S.477: »Mit die­sem Zug ret­test Du nicht Kin­der, son­dern Dich selbst.«

Die Spra­che der Jachina kennt Bild­haf­tes, gegen Ende der Reise durch­que­ren sie die Kysyl­kum-Wüste, S.467: »,.. die »Gir­lande« kam voran, han­gelte sich durch die Wüste, so wie ein im Moor ver­irr­ter von einem Gras­bü­schel zum ande­ren springt: Tschumysch, Kamy­schli-Bas, Kara­kuus – das klang, wie wenn Sand über Baum­stümpfe weht.«

Am Ende fragt Dejew, warum haben alle, die in den 6 Wochen unter­wegs waren, ihm gehol­fen und gibt zur Ant­wort, S. 570: »… weil doch jeder irgend­wie Mensch blei­ben muss, auch in die­sem alles ver­schlin­gen­den Chaos.« Und so sit­zen 3 in einem Abteil, wäh­rend die Kom­mis­sa­rin auf dem Weg zum nächs­ten Kin­der­zug ist, S. 581: »Der Mann, die Frau [Fatima] und der Greis [Bug] fuh­ren in einem Fami­li­en­ab­teil, und jeder war dem ande­ren wert und teuer.«

Es ist ein sehr har­tes Buch, das über­deut­lich zeigt, was hun­gernde Kin­der bedeu­ten. Aber heut­zu­tage hun­gern Mil­lio­nen von Kin­dern, damit Rei­che Fleisch essen kön­nen und Waf­fen pro­du­ziert wer­den, um Kriege zu füh­ren. Die dann für noch mehr Elend und Hun­ger sor­gen – auch daran erin­nert Jachi­nas Buch – mich jedenfalls.

Jachi­nas Roman ist eine starke huma­nis­ti­sche Erzäh­lung, die sich in die Schar gro­ßer rus­si­scher Erzäh­ler seit dem 19. Jahr­hun­dert ein­reiht. Der Huma­nis­mus der Akteure, der die unwahr­schein­lichs­ten Schwie­rig­kei­ten über­win­det, der Huma­nis­mus, der zur Ret­tung von 500 hun­gern­den Kin­dern führt. Es ist die große rus­si­sche Erzähl­kunst, eines Pusch­kin, Tol­stoi, Tschechow, Scho­lochow, Paus­tow­ski und Gra­nin, die man hier fin­det. Mit ein wenig mär­chen­haf­ten, aber wär­men­den Ele­men­ten. Ein Roman, dem ein lan­ges Doku­men­ten­stu­dium vor­aus­ging, wie Jachina im Nach­wort dar­legt und Cha­peau allein für die gelun­gene Nach­bil­dung der Welt die­ser Kin­der in ihrem Roman.

Ich kann hier nur einen klei­nen Teil der Sze­nen die­ses gro­ßen Buchs bei­spiel­haft vor­stel­len. Es ist ein Werk, das gegen Krieg und seine Fol­gen steht, ein wär­men­des Signal in unse­rer Zeit, wo Kriege wie­der zum Mit­tel der Poli­tik wer­den, in der Kriegs­stim­mung täg­lich gene­riert und die ver­hee­ren­den Kriegs­fol­gen wenig the­ma­ti­siert werden.

Und mit einem aus­drück­li­chen Dank an Irm­traut Gutschke und das »nd« ver­bun­den, die mich zu die­ser Lek­türe brach­ten: Ein Roman, der Zei­chen setzt.

Eine große huma­nis­ti­sche Erzählung


Mate­rial zu Autorin und Werk fin­det sich auf der Web­seite des Auf­bau Verlags:

Den Lite­ra­tur­sa­lon von Irm­traud Gutschke fin­det man hier:

Die Ver­an­stal­tun­gen wer­den auf der Web­seite der Tages­zei­tung »nd« angekündigt:

2022 rezensiert, Aufbau Verlag, Gusel Jachina, Hunger, UdSSR, Wolga-Gebiet