Regina Scheer
» Machandel
Autorin: | Regina Scheer (2014) |
Titel: | Machandel |
Ausgabe: | Albrecht Knaus Verlag, München 2014, 8. Auflage |
Erstanden: | Pankebuch Berlin Pankow, gelesen im Literaturkreis der Fürst Donnersmarck-Siftung |
Zu Beginn des Romans heißt es: »Alles ist wahr, aber so war es nicht.«
Auf diesen vielleicht nur scheinbaren Widerspruch muss sich der Leser einlassen. Fünf weibliche und zwei männliche Stimmen erzählen uns die Geschichte mehrerer Familien, die alle mit dem fiktiven Dorf ›Machandel‹ in Verbindung stehen.
Das niederdeutsche Märchen ›Von dem Machandelboom‹ aus der Sammlung der Brüder Grimm spielt hier eine ganz besondere Rolle. Es handelt sich um die Geschichte von Marleenken. Sie vergräbt die Knochen ihres Bruders unter einem Mandelbaum. Die Stiefmutter hat ihn getötet. Der Bruder erscheint wieder als Vogel und verkündet so lange die Wahrheit über seinen Tod, bis er gerächt wird. Nun kann er wieder menschliche Gestalt annehmen.
Dieses Märchen taucht in verschiedenen Varianten immer wieder im Roman auf und kann damit ein Schlüssel sein zum Verständnis des Romans. Vielleicht steht der Vogel für den Protagonisten Jan?
Jan gehört zu der Familie der Langners. Regina Scheer erzählt von den großen Hoffnungen, die Jans Vater nach 1945 hegte, er wollte zusammen mit der SED aus der SBZ einen Staat entstehen lassen, der kommunistisch geprägt sein sollte.
In der Wendezeit 1990 wird er sich »als Verlierer der Geschichte« (S. 415) bezeichnen.
Aus den Hoffnungen und Einzelschicksalen entsteht eine Geschichte, die in die 40er Jahre hineinreicht und mit der sogenannten Wendezeit 1990 endet. Die handelnden Personen treffen in Machandel aufeinander, nicht immer freundschaftlich, nein, es gibt Verrat, Hass, auch Unterstützung und Liebe, aber auch Unverständnis. So zwischen Jan, der im Knast gesessen und einen Ausreiseantrag gestellt hat, und seinem Vater, der zum Minister in der DDR aufgestiegen ist.
»Meinen Sohn haben sie eingesperrt und ich habe ihn nicht verteidigt. Aber meinen Schwur aus der Zeit des Roten Frontkämpferbundes habe ich gehalten. Stets und immer ein Soldat der Revolution zu sein. Meine revolutionäre Pflicht gegenüber der Arbeiterklasse und dem Sozialismus zu erfüllen. ›Eine Revolution hat nicht stattgefunden‹, sagt Jans Freund.« (S. 399)
Die Hoffnungen, Lebensvorstellungen aber auch Niederlagen werden über drei Generationen dargestellt. So sind auch die unterschiedlichen Vorstellungen1989 zur weiteren Entwicklung in der DDR skeptische, aber auch optimistische.
Die Gründung des NEUEN FORUM, die Diskussionen über den ›Dritten Weg‹ und die Diskussionen in der Kirche stehen im Vordergrund. Regina Scheer gehörte auch zu den Mitgliedern des NEUEN FORUM.
»Die Erde unter unseren Füßen war in Bewegung geraten, befremdet sah ich, wie aus dem Chaos etwas entstand, das nicht das war, wovon wir geträumt hatten. Erst da begriff ich, dass unsere Träume sehr verschieden gewesen waren. Plötzlich schien es nur ein Ziel zu geben: sich dem Westen anzuschließen.« (S. 420)
Die Idylle in Machandel zerplatzt also, die Vorstellung hier ohne Stasi-Beobachter leben zu können, ebenso, die Zukunft wird eher vorsichtig optimistisch betrachtet. Optimismus geprägt durch die Heilkraft des Machandelbaums, der aber durchaus auch Stacheln hat (siehe oben).
Besonders die Frauengestalten Emma und Natalja beeindrucken. Für sie stehen in dieser eher trostlosen Situation nicht politische Diskussionen – wie bei Jan und seinem Vater – im Vordergrund. »… man hörte Namen wie Stalin und Thälmann. Ich wollte nichts wissen von solchen Sachen, ich hatte genug zu tun, die Kinder satt zu bekommen, und kaum Zeit an mein eigenes Leben zu denken.« (S. 327)
Diese Frauen wollen der Gewalt etwas entgegensetzen: die Bereitschaft zu helfen und die fraglose Liebe zu den Mitmenschen.
Gibt es diese Menschen noch?
»Ja, es gibt diese Menschen noch. In abgelegenen Dörfern und in allen Flüchtlingslagern trotzen Menschen Not und Elend Leben ab, spielen, lieben, bekommen Kinder, machen weiter. 17 Millionen sind laut Schätzung des UN-Flüchtlingswerks derzeit (Stand 2014) auf der Flucht, mehr als 1945.« (Quelle)
Im November 2022 sind 103 Millionen Menschen auf der Flucht. (Quelle)
»Es braucht jemanden wie Regina Scheer, der ihren in historischen Zusammenhängen und individuellen Träumen verästelten Lebensgeschichten zuhört und sie mit dieser zurückhaltenden Emphase weitererzählt.« (Quelle)
»Alles ist wahr, aber so war es nicht.« – Lesenswert!
Margret Hövermann-Mittelhaus
2. Weltkrieg, 2022 rezensiert, Albrecht Knaus Verlag, DDR, Historisches, Neues Forum, Politik, Regina Scheer, Wende