Juri Bondarew
» Das Ufer
Autor: | Juri Bondarew (USA, 1970) |
Titel: | Das Ufer |
Ausgabe: | Volk & Welt, Berlin, DDR 1977 |
Erstanden: | Aus meinem Bestand |
Dieser Bondarew lag wohl seit mehr als 30 Jahren in einem unserer Regale, oft genug angefangen und nie beendet, wie es mit manchem Buch so geht. Und wieder war es Christa Wolf (»Moskauer Tagebücher«), die den Anstoß zur endgültigen Lektüre gab. Für ein sehr ungewöhnliches, sehr nachdenklich machendes und außerordentlich vielschichtiges Buch, das den 2. Weltkrieg aus sowjetischer Sicht mit der Nachkriegsperiode der sechziger/siebziger Jahre verknüpft.
Ein junger sowjetischer Offizier, nach dem 8. Mai nahe Berlin in Kämpfe mit versprengten Nazitruppen verwickelt, erlebt die erste Liebe seines Lebens. Ausgerechnet mit der noch jüngeren Deutschen Emma, deren Bruder als »Werwolf« verdächtigt wird, und die er vor der Vergewaltigung durch einen ihm Unterstellten schützt – wo bei dem nur die von den Deutschen zigfach erlebte Brutalität ausbricht. Bondarew gelingt sogar mitten im Kriegsgeschehen die russisch-romantische Schilderung einer Frühlingsnacht, in der man Liebe fühlt, fern der eigentlichen Heimat.
Die trügerische »Idylle« endet jäh, weil der Leutnant in die Tschechei muss, die Truppen des unbelehrbaren Faschisten Schörner zu vernichten; die auch nach dem 8. Mai noch kämpften. Der Leutnant wird nach dem Krieg erfolgreicher Schriftsteller in der Sowjetunion (autobiografisch?), erhält 20 Jahre später eine Einladung nach Hamburg. Dort erkennt er in der Wirtschaftswunder-Wohlstands-Stadt,die wohlhabend-saturiert reiche Witwe Frau Herbert, die für die Einladung gesorgt hat, nur zögerlich wieder: Es ist die erste Liebe seines Lebens, es ist Emma. Die jahrelang gebetet hat, dass er zurückkommen möge. Also auch ein Buch über die Begegnung eines mittelalten Menschen mit einer Lebensphase seiner Vergangenheit. Was ist aus einer einst intensiven Liebe geworden?
Bondarew beschreibt statt kritikloser Heldenverehrung die Konflikte unter den Rotarmisten, die fast gehassten Intellektuellen gegenüber einem eher dumpfbackigem Proleten, beide aber als Soldaten geschätzt. Dass es, Krieg und militärische Disziplin hin und her, auch Intrigen und Gemeinheiten untereinander gab. Und immer wieder: Die Kontraste, aber auch Konflikte zwischen »Gemeinen« und Offizieren in der Roten Armee. Der Soldat Meshenin, der nicht eine Minute nach 12 noch etwas abkriegen will – für die Orden der Offiziere. Selten differenziert auch das Erleben der Soldaten im Krieg: rüde Soldatensprache, rauschartige Kampfgefühle, das Widerwärtige der Todesangst, ein sehr offenes, sehr selbstkritisches Buch.
Andererseits, wie den Rotarmisten selbst nach dem 8. Mai ein widerliches, sinnloses Schlachten von den Fanatikern der SS aufgezwungen wird. »Sie verbreiteten den Tod, als wenn darin der Sinn des Lebens bestünde«; (S. 245). Wie es ungeheuer intensive Lebensmomente in wenigen, kurzen Kriegspausen gibt; dass die Protagonisten des Kampfes auch vor dem Krieg ein »eigentliches Leben« hatten.
20 Jahre später wird es eine Begegnung der Sieger des Krieges mit dem Wirtschaftswunder des einstigen Besiegten, dessen materieller Reichtum den des Siegers bei weitem übertrifft. Und ein ehemaliges Paar, das nicht vermag sich von den festen Schienen des jetzigen Alltags zu lösen. Spannend geschildert, wie der sowjetische Schriftsteller in einem Striplokals in St. Pauli zwischen Lockung und Angewiedertsein schwankt. Und wo er dort – wie viele »Provinzler«- gründlich geneppt wird; ein Synonym für die Lockungen des Kapitalismus? Hochspannende Diskussionen zwischen »Ost und West«, über Gott und die Welt. Dann die Reflektionen: Mit 20 denkt man noch nicht über den Sinn nach, man lebt einfach, aber heute? Hier gelingen dem Autor am Ende unglaublich berührende Reflexionen – mit einem tragischen Ende? »Ich hasse den Krieg, aber mitunter vermisse ich die Menschen, mit denen er mich zusammengeführt hat.«
Bondarew, selbst aktiver Kriegsteilnehmer, ist eine einzigartige Verknüpfung zwischen Kriegsgeschehen ’45 und dem späteren, zivilen, heutigen Leben gelungen. Ein raffiniert vielschichtiger, intensiver Roman, emotional, extrem abwechslungsreich. Ein sehr offenes und selbstkritisches Buch auch über Momente des Geschehens im »Großen Vaterländischen«, Respekt vor diesem äußerst unkonventionellen »Kriegsroman«, der eigentlich gar keiner ist.
Sehr, sehr bemerkenswert, wie andere Werke Bondarews auch.
Sehr empfehlenswert
2. Weltkrieg, 2016 rezensiert, Christa Wolf, Juri Bondarew, Nachkriegsperiode, Russland, UdSSR, Volk & Welt Berlin/DDR