
Ales Adamowitsch, Daniil Granin
» Das Blockadebuch, 2. Teil
Autor: | Ales Adamowitsch, Daniil Granin (UdSSR, 1981) |
Titel: | Das Blockadebuch, 2. Teil |
Ausgabe: | Volk & Welt, Berlin, DDR, 2. Auflage, 1987 |
Erstanden: | Antiquarisch |
Schon der erste Band (vgl. »Gelesen im Juli 2016«) war ein Fanal, ein Memorial für den vielleicht größten Massenmord durch die Nazitruppen im 2. Weltkrieg: Der Blockade der zweitgrößten Stadt der damaligen Sowjetunion, was den Tod von mehr als 1 Million Menschen zur Folge hatte. Wovon bis zu 900.000 qualvoll in den Monaten Dez ’41 bis März ’42 verhungerten, Frauen, Kinder, Kranke – und bis dahin völlig gesunde Menschen.
Anders als im ersten Band (2013 in Russland neu aufgelegt) konzentrieren sich die Autoren Adamowitsch und der kürzlich verstorbene Granin (vgl.) auf die Tagebücher des leitenden Historikers der Akademie der Wissenschaften, G.A. Knjasew, des 16-jährigen Schülers Juri und der 28-jährigen Mutter von zwei Kindern.
Damit gelingt es den Autoren das Unbegreifliche nahezu fassbar machen: Wie überlebt man Monate des unentrinnbaren Grauens, was können Menschen einander antun, was trennt die »Starken« von den »Schwachen«? Oder wie Knjasew schreibt: »Gedanken über Menschen, mit denen man siegt und solche, mit denen man nicht siegt.«
Die Momente der Verzweiflung, Menschen, die vor Hunger wahnsinnig werden, Mütter, die ein Kind opfern müssen, damit die anderen überleben. Die Feststellung: Kein Mensch ist mehr, wie er vorher (vor der Blockade) war.
Dies ist eine der wichtigen Zielrichtungen des Buchs, darzustellen und – teilweise – zu ergründen, wie die Extremsituation der Blockade, der Alltag gewordene Albtraum das Innerste des Menschen nach außen brachte, bei manchem ein Sturz in die Gemeinheit. Die Autoren versuchen auch eine Antwort zu geben, wie die Menschen das aushalten konnten: Kraftquelle des Widerstands gegen die barbarischen Ausrottungspläne Deutschlands ist der zutiefst erworbene Humanismus des russischen Menschen.
Differenzierter heißt es später: Was waren die Kraftquellen der Menschen? Beim jungen Juri das Gewissen, beim Historiker der Verstand, bei der jungen Mutter die Kindesliebe.
Nicht alle sind stark, der Schüler Juri, dessen Leben zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat, stiehlt und betrügt beim Essen, halb wahnsinnig vor Hunger. Kaum erträglich die intensive Schilderung zu lesen, was den Menschen ein einziges Stückchen Konfekt bedeutete. Juri begreift nicht, was passiert, ist am Ende zu schwach für die Evakuierung und stirbt im Januar 1942, 16-jährig !
Insbesondere die Aufzeichnungen des halbgelähmten Historikers Knjasew beinhalten sehr umfangreiche Alltagsbeobachtungen, aus dem engen Umkreis zwischen Wohnung und Arbeitsstätte Akademie, zwischen denen der Wissenschaftler im Rollstuhl pendelte. Wenn es Hunger, Körperstärke, Witterung und Terrorbeschuss der Wehrmacht zuließen.
Er erklärt, für wen er sein Tagebuch führt: »Ich schreibe dies für Dich, der in ferner Zukunft ohne Kriege lebt.«
Wie auch im ersten Band gibt es viele Stellen, wo man beim Lesen stockt:
- Beim Beginn des terroristischen Artilleriebeschusses und des Bombardements; beides nachweislich so angelegt, größtmögliche Schäden im Leben der Stadt anzurichten
- Dem Leiden der Kinder und Mütter
- Dass man oft anderen Menschen nicht helfen kann, ohne sich selbst umzubringen.
- Dem beginnenden Hunger, der katastrophale Ausmaße annimmt, der eine kafkaeske Steigerung der Hamsunschen Hungerdarstellung bedeutet.
- Die Toten, die nicht mehr beerdigt werden können
- Die beginnende Verwahrlosung von Menschen und Stadt – bei vielen zerfällt die Persönlichkeit
- Der Verschärfung der Katastrophe durch einen strengen Winter bis -30 Grad- ohne Heizung!
- Der Ohnmacht und dem Unwissen ausgeliefert, wann der Blockadealbtraum vorüber sein würde.
- Die extreme nervliche Anspannung, Kinder, die aussehen wie Greise
- Die Mutter, die ihre Kinder hungern sieht, die keine Milch mehr hat und ihre Tochter stattdessen ihr Blut saugen lässt.
- Menschen, die sich um ihr Brot betrügen, der Verlust von Brotkarten bedeutet Tod
- Weil man nicht weiß, wie man halbverhungerte Evakuierte behandeln soll, sterben viele.
- Wieviel kann ein Mensch ertragen und dennoch Mensch bleiben?

Hoffungsschimmer sind den Menschen der militärische Erfolg vor Moskau, die »Straße des Lebens« über das Eis des Ladoga Sees, die Menschen evakuiert und Lebensmittel bringt. Der Rundfunk, die Gedichte der Achmatowa und der Bergholz – und immer wieder selbstlose Hilfen, durch Menschen, die selbst halb verhungert sind. Und manchmal sind es Bücher, die einer rettet, der so schwach ist, dass er sie auf allen Vieren in seine Wohnung bringt.
Menschliche Schwächen, wie Gemeinheiten, Eigennutz, Bereicherung, Ausnutzung der Not werden ebensowenig verschwiegen, wie die Tatsache, dass »wir Russen erst das Organisieren lernen mussten«.« Oder: »Es gab Gauner, die sich an der Not der anderen in der Blockade bereicherten« – aber man wusste, wie man sie erkannte.«
Wo es notwendig erschien betten die Autoren die Tagebuchauszüge in die historischen Ereignisse ein und ergänzen sie mit einigen wenigen Aufzeichnungen anderer Stadtbewohner.
Adamowitsch/Granin ist ein grandios bewegendes Buch gelungen, das Geschichte erfühlbar macht. Ein Buch, das für jeden Abgeordneten der AfD Pflichtlektüre sein müsste, allen voran ihrem Gauführer, dem Miniatur-Göbbels Gauland.
Unverzichtbare Lektüre für alle, die nicht stolz sein können, auf die Verbrechen deutscher Soldaten in der Terror- und Mordtruppe »Deutsche Wehrmacht«.
Bewegendes Buch zur jüngeren europäischen Geschichte
Nachtrag: Im Jahre 2019 brachte die Bundeszentrale für politische Bildung die beiden Bände des Blockadebuchs von Adamowitsch/Granin in einem einzigen Band heraus. Sie basiert auf einer unzensierten russischen Neuausgabe aus dem Jahre 2014.
Mehr dazu findet man hier.
Ales Adamowitsch ist auch Mit-Autor des erst in 2025 erschienenen Buchs »Feuerdörfer« über die Verbrechen der faschistischen deutschen Wehrmacht in Bjelorussland. Wer heutzutage von »Vernichtungskrieg« redet, sollte das Buch gelesen haben, hier ist es rezensiert. Es ist bei Aufbau unter der ISBN 978-3-351-03997-4 erschienen. Eine Rezension in unserem Blog ist mittelfristig geplant.
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