
Ales Adamowitsch, Daniil Granin
» Das Blockadebuch, 1. Teil
Autor: | Ales Adamowitsch, Daniil Granin (UdSSR, 1982) |
Titel: | Das Blockadebuch, 1. Teil |
Ausgabe: | Volk & Welt, 1987 |
Übersetzung: | Ruprecht Willnow |
Erstanden: | Antiquarisch |

Das ist ein einzigartiges Werk zweier russischer (sowjetischer) Schriftsteller. Granin hatte ich Ihnen im Mai 2016 näher gebracht; er war einer der im damaligen Ostblock wichtigen Autoren der siebziger und achtziger Jahre.
Adamowitsch/Granin versuchen mit fast ausschließlich dokumentarischen Mitteln, Tagebüchern, Erinnerungen, Interviews das Grauen des größten Kriegsverbrechens des deutschen Faschismus gegenständlich zu machen: Der Versuch des Aushungerns, der Blockade der Millionenstadt Leningrad, der zweitgrößten Metropole Russlands. Es fällt schwer zu beschreiben, was nachdrücklicher wirkt: Die furchtbare Geschichte der Menschen auf dem Titelbild? Das unfassbare Tagebuch eines kleinen Mädchens: »Großmutter ist am 25. Januar gestorben, Onkel Aljoscha am 10. Mai, Mama am 13. Mai um 7:30 morgens. Alle sind gestorben. Nur Tanja ist noch da.«
Die Qual der Zeitzeugen sich an das Grauen der Blockade zu erinnern. Aber auch das »Nicht-Verstehen« der Folgegeneration. Die Frage: Wozu das alles? Vielleicht, weil diese Menschen litten, um andere zu retten, auch in Paris, London? Weil ein Volk einfach seine Lebensweise verteidigt?

Und wie aus den Zeitzeugnissen deutlich wird, wie Hunger wirkt, dass er eine echte Massenvernichtungswaffe ist. Hunger und Psyche: Der Zerfall der menschlichen Persönlichkeit.
Wo Verhungernde direkt vor den Augen anderer sterben, Leichen überall, auf den Straßen, in der Wohnung. Wie der hungernde Mensch lernt, das Einfachste und das Wichtigste zu schätzen.
Wie ein deutscher Wissenschaftler die Nazis berät, wie man die Menschen »am besten« verhungern lässt. Wie dieser Mann sich wundert, dass das Sterben der Leningrader nicht so klappt, wie er sich das vorgestellt hat. Dabei wurden extra viele Schrapnellbomben eingesetzt, um möglichst viele Fenster der Leningrader Wohnungen zu zerstören, auch die Kälte sollte töten.

Man kann es kaum glauben, mit welcher bürokratischen Perfidie auch dieser Massenmord geplant wurde.
Die furchtbare Kälte der schlimmsten Hungermonate Dezember 1941 bis Februar 42. Alles wurde verheizt, Möbel, Bücher, Fußböden, die alten Holzhäuser – dennoch war am nächsten Morgen der Schal am Munde angefroren.
Der Standesbeamte, der Todesurkunden wie am Fließband ausstellt. Der Brief einer sterbenden 13jährigen. Alle Haustiere waren gegessen, Hunde, Katzen gab es nirgends mehr. Der bemerkenswerte Satz: Das Schicksal der Tiere ist auch ein Teil der Tragödie der Stadt.
Die tägliche Begegnung mit dem Tod, die Katastrophe des Verlusts von Brotmarken.
Kinder, die noch auf dem Schoß ihrer von einer Granate getöteten Mutter saßen. »Der Hunger und die Kinder, die Blockade und die Kinder – das ist das größte Verbrechen der Faschisten.« Oder »Die kleinen Kinder hatten glasige Augen, das war schwer zu ertragen.« Ihre Kindheit endete jäh.

Berichte, dass erstaunlich wenig geplündert und geraubt wird, dass eher wenige Menschen sich angesichts des unmenschlichen Hungers vergaßen. Es gab schlechte Menschen, die stahlen, betrogen, plünderten – aber wenige angesichts des riesigen Elends. Es gab aber auch das Nebeneinander von Solidarität und Gemeinheit, Diebstahl, Fledderei von Toten, und dennoch eher das Fazit: »Nun stellte sich heraus, das der Mensch auch dort Mensch bleiben konnte.«
Und: Der ungeheure Trost durch die Verse der Olga Bergholz, der Lyrik der Anna Achmatowa – Nahrung für die Seele.
1945 nimmt ausgerechnet Hitler im Appell an die Berliner die Verteidigung Leningrads zum Vorbild, Zitat: »Der Hass der Bevölkerung schuf die wichtigste Triebkraft der Verteidigung.«
Schon dieser Band des zweibändigen Werks ist ein Memorial für die Blockade Leningrads, des Todes einer Million Menschen, des vielleicht größten Kriegsverbrechens der Nazi-Wehrmacht: Eine Millionenstadt verhungern zu lassen. Es sollte nicht vergessen werden.
Trotzdem manch Augenzeugenbericht nur schwer zu ertragen ist:
Sehr lesenswert
Nachtrag
In der DDR erschien das Blockadebuch in 2 Bänden schon in den Jahren 1984 bzw. 1987, in der Bundesrepublik hatte man es mit dieser Aufklärung über das Wirken deutscher Soldateska weniger eilig.
Erst 2018, also über 30 Jahre später erschien im Berliner Aufbau Verlag eine (dann aber unzensierte) Auflage des Blockadebuchs, die auf der entsprechenden russischen Neu-Augabe von 2014 aufbaute. Damit trat auch Helmut Ettinger als Übersetzer hinzu; Ettinger brachte auch die großartige Erzählerin Gusel Jachina ins Deutsche, vergleiche diesen Link.

Das Foto stammt vom 2. 1. 1942 und zeigt wie Angehörige einen Leichnam über den Leningrader Newski Prospekt transportieren.
©akg-images/Universal Images Group/Sovfoto
Mir liegt diese Neufassung in der Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung von 2019 vor. Sie ist mit einem Vorwort von Ingo Schulze versehen, der darauf hinweist, dass Granin bei seiner gefeierten Rede 2014 im Deutschen Bundestag im Grunde einen Bericht über die Blockade vortrug, was wesentlich zur bundesdeutschen Ausgabe beitrug.
In einem ausführlichen Vorwort und 3 neuen Kapiteln fasst Daniil Granin das zusammen, was zuvor der Zensur zum Opfer gefallen war; sein Co-Autor Adamowitsch starb schon 1994. Die Unterschiede der Fassungen sind jedoch nicht sehr groß, ich habe beide gelesen.
Es ging bei der Zensur einmal um die sogenannte »Leningrader Affäre«. Ein Streit stalinistischer Kader innerhalb der KPdSU, in dessen Folge jedoch vieles in der Darstellung der Blockade, ihrer Aufhebung und der Beseitigung ihrer Folgen falsch bzw. unverständlich dargestellt wurde. Und die großartigen Verteidiger der Stadt und Blockadekämpfern den stalinistischen Verfolgungen von Repressalien, Gefangenschaft, Folter und Mord ausgesetzt wurden. Und das »Museum zur Verteidigung Leningrads« mit vielen einzigartigen Exponaten förmlich vernichtet.
Dies alles trug weit über die Ära Stalins hinaus, so beklagt sich Granin, S. 680: »Die in Ungnade gefallene Stadt war von Argwohn umgeben. Ihr wurde weder gestattet, ihre Würde zurück zu erlangen, noch ihre Verdienste anerkannt zu sehen und ihre Bedeutung in der Kultur Russlands wiederherzustellen.«
An dieser Stelle fühle ich mich als Rezensent verpflichtet darauf hinzuweisen, das hier auch die scheinbar ewige Rivalität der russischsen Metropolen Leningrad und Moskau ins Spiel kam.

Bildquellen und -rechte wurden nachdamaligem sowjetische bzw. DDR-Recht anders gehandhabt als heute. So die Angaben im ersten Band des Blockadebuchs.
Zweiter wichtiger zensierter Punkt war der während der Blockade vorgekommene Kannibalismus. Den sollte es im sowjetischen Sozialismus nicht gegeben haben, genauso wenig wie das Backen von Torten sowie eine Besserverpflegung für die Nomenklatura im Smolny während der Hungersnot. D. Granin stellt das alles in der Fassung von 2014/2018 klar, auch unter Nennung grausiger Details, vergisst die wabernde Gerüchteküche nicht und verweist damit allerdings David Benioffs Machwerk (»Stadt der Diebe«) mit der reißerischen Erfindung von »Menschenfleischern« in das Reich übler Fantasien.
Schaut man sich heute Beschluss und Debatte in 2022 des Bundestags zum angeblichen »Holodomor« in der Ukraine an, scheinen die meisten MdB Granins Rede entweder vergessen, oder nie wahrgenommen zu haben. Und den schwerwiegenden Begriff des Völkermords, den sie für die Blockade Leningrads nicht »übrig« hatten, auf dem Altar der Tagespolitik und des Wirtschaftskriegs gegen Russland zu opfern. Genauso wie die bis heute ausstehenden Reparationen an Polen und wenigstens eine materielle Wiedergutmachung für die unermesslichen Schäden des polnischen Volks durch den faschistischen deutschen Vernichtungskrieg 1939 bis 1945 zu leisten.
Geschichtsvergessener geht es kaum.
Völkermord?
Der Berliner Historiker Götz Aly griff 2025 die von verschiedenen Seiten erhobene Forderung auf, die Leningrad-Blockade zum Völkermord zu erklären. Dazu hatte auch die Russische Regierung Deutschland mehrfach aufgefordert, bisher ohne Erfolg. In einem Interview in der Berliner Zeitung vom 27.1.2025 erklärte er am Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee: »Ich halte die Forderung für historisch legitim.« Mehr dazu, auch warum das angesichts des Ukraine Kriegs gilt, finden Sie hier.
2. Weltkrieg, 2016 rezensiert, 2022 Ergänzung, Ales Adamowitsch, Bundeszentrale für politische Bildung., Daniil Granin, Historisches, Leningrad, Politik, Volk & Welt Berlin/DDR