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Vera-Inber

Vera Inber
» Fast drei Jahre

Autor:Vera Inber(UdSSR, 1946)
Titel:Fast drei Jahre
Aus­gabe:SWA Ver­lag 1947
Über­set­zung:Lei­der nicht angegeben
Erstan­den:Anti­qua­risch via Book​loo​ker​.de

Vera-Inber

Schon wegen Ver­lag (Sowje­tisch) und Erschei­nungs­jahr (sowje­tisch besetzte Zone) ist die­ses Büch­lein eine – nicht bil­lige – Rari­tät. Es sind Aus­züge aus dem »Lenin­gra­der Tage­buch« der Autorin, über die ich erst­mals im Mai 2016 schrieb (https://​mit​tel​haus​.com/​2​0​1​6​/​0​5​/​3​1​/​v​e​r​a​-​i​n​b​e​r​-​d​e​r​-​p​l​a​t​z​-​a​n​-​d​e​r​-​s​o​n​ne/).

Die Inber war – zusam­men mit Olga Berg­holz – eine der Stim­men, die im Rund­funk den Bewoh­nern des bela­ger­ten Lenin­grads hal­fen, den uner­mess­li­chen Ter­ror der Nazi-Armeen zu über­le­ben. Sie geht zusam­men mit ihrem Mann 1941 von Mos­kau nach Lenin­grad, ihr Tage­buch ist ein ähn­li­ches Schre­ckens­zeug­nis wie »Das Blo­cka­de­buch« von Ada­mo­witsch +Gra­nin (vgl. https://​mit​tel​haus​.com/​2​0​1​6​/​0​7​/​3​1​/​a​l​e​s​-​a​d​a​m​o​w​i​t​s​c​h​-​d​a​n​i​i​l​-​g​r​a​n​i​n​-​d​a​s​-​b​l​o​c​k​a​d​e​b​u​c​h​-​1​-​t​e​il/).

Gleich­zei­tig mit dem Er- und Über­le­ben der Kata­stro­phe arbei­tet sie an ihrer Dich­tung und notiert das Tage­buch des Grau­ens. Dies kann man eigent­lich nicht rezen­sie­ren, nur stich­pro­ben­haft wiedergeben.

  • 9./10.9.41 Lebens­mit­tel­ager von Nazis mit Brand­bom­ben vernichtet.
  • 26.9.41 Brand­bom­ben auf 2 Krankenhäuser.
  • 15.11. Zweite Kür­zung der Brotration.
  • 28.11. Katze gesucht – zum Essen!
  • 13.12. Keine Was­ser­ver­sor­gung mehr.
  • 21.12. Voll besetzte Stra­ßen­bahn beschossen
  • 26.12. Keine Särge mehr.
  • 2.1. Gespens­ter­hafte Dys­tro­pho­bi­ker auf der Straße. – »Ein Mann schleppt sich ins Kran­ken­haus,.. und begann laut­los zu ster­ben.« »Nachts ist es unbe­schreib­lich still«.
  • 6.1.42 Im Kran­ken­haus zu Besuch, »selbst ein Ske­lett sieht wohl­ge­nähr­ter aus.« Und »Hier wird nie­mand behan­delt, man bekommt bloß zu essen.«
  • 7.1.41 Weder Radio noch Zei­tun­gen und jetzt geht das Tele­fon nicht mehr.
  • 17.1. Kein Geld, keine Post, Ämter funk­tio­nie­ren nicht mehr.
  • 21.1. Brot­zu­lage
  • 25.1. Minus 40 Grad, Fens­ter sys­te­ma­tisch von den Nazis zer­stört. Das Mit­er­le­ben eines Bom­ben­an­griffs auf einen Bahn­hof. Und:
  • »Der Anblick der Stadt bricht einem das Herz«.
  • 2.2.42 »Nata­scha sah am Ein­gang der Kli­nik zwei Lei­chen, die sich umarmt hielten.«
  • 9.8. Die 7. Sym­pho­nie von Schost­a­ko­witsch, das bole­ro­ähn­li­che Zwi­schen­spiel hören alle als Pan­zer­ge­ras­sel der Deutschen.
  • 18.4.43 Kin­der tan­zen und spie­len im Pio­nier­pa­last, vor einem Jahr wären sie zu schwach dazu gewesen.
  • 11.8.43 Eine blu­tige Stra­ßen­bahn­hal­te­stelle, auf dem Fahr­damm lie­gen Fet­zen von Men­schen­kör­pern, Ein­hol­ta­schen, Kannen.
  • 25.3.44 Bei deut­schen Artil­le­ris­ten gefun­dene Kar­ten zei­gen zur Ver­nich­tung vor­ge­se­hene Objekte: Schulen/Museen/Krankenhäuser Eremitage/Medizinische Institute.

1944 wird die Blo­ckade end­gül­tig auf­ge­bro­chen, nach der extrem müh­sa­men Teil-Ver­sor­gung über die Eis­straße des Ladoga-Sees (41/42) und dem Teil-Durch­bruch Anfang ’43 das Ende des faschis­ti­schen Ter­rors gegen eine Mil­lio­nen­stadt. Drei Monate nach­dem der erste »Pfeil«, der direkte Schnell­zug Lenin­grad-Mos­kau wie­der fährt, kehrt die Inber mit ihrem Mann (einem füh­ren­den Phar­ma­zeu­ten) nach Mos­kau zurück. Lenin­grad hin­ter­lässt sie die­ses Zeugnis.

Es ist ein gru­se­lig gutes Buch, es bie­tet eine erschre­ckende Nüch­tern­heit, es macht über­deut­lich, das war ein Ver­nich­tungs­krieg! Selbst wenn der lei­der inklu­dierte Sta­lin-Kult und manch unan­ge­neh­mes Hel­den­pa­thos den Ein­druck schmä­lert, man sollte es gele­sen haben.

Ein Satz von Christa Wolf zum ers­ten Buch von Vera Inber, »Ein Platz an der Sonne« (vgl. https://​mit​tel​haus​.com/​2​0​1​6​/​0​5​/​3​1​/​v​e​r​a​-​i​n​b​e​r​-​d​e​r​-​p​l​a​t​z​-​a​n​-​d​e​r​-​s​o​n​ne/), emp­finde ich hier als eben­falls sehr pas­send: »Ein klei­nes Buch. Es braucht sich nicht zu scheuen in die­sem Jahr neben die gro­ßen Bücher des Lan­des gelegt zu wer­den.« Quelle: Christa Wolf, Lesen und Schrei­ben, Abschnitt »Der Sinn einer neuen Sache – Vera Inber«, S.57

Ein ein­drucks­vol­les Zeitzeugnis

2019 rezensiert, Blockade, Geschichte, Leningrad, Nazis, Olga Bergholz, Russland, Sowjetunion, UdSSR, Zweiter Weltkrieg