Skip to main content
Olga-Berggolz-memorial

Olga Berg­holz
» Tages­sterne

Autor:Olga Bergholz(UdSSR, 1959)
Titel:Tages­sterne
Aus­gabe:Kul­tur und Fort­schritt (DDR), 1963
Über­set­zung:Juri Elpe­rin
Erstan­den:Anti­qua­risch via Book​loo​ker​.de

Olga-Berggolz-memoriala

Die Berg­holz, eine große rus­si­sche Lyri­ke­rin, Opfer des Sta­li­nis­mus und – zusam­men mit Vera Inber – eine Rund­funk­stimme, die den Lenin­gradern über das schlimmste Nazi-Kriegs­ver­bre­chen, die eine Mil­lion Men­schen­le­ben for­dernde Blo­ckade Lenin­grads, half.

»Tages­sterne« ist eine Auto­bio­gra­fie in Skiz­zen einer Frau, die mit 2½ Jah­ren mit ihrem Vater aus dem klei­nen Wol­ga­dorf in das dama­lige Petro­grad kam und schon spürt, dass etwas unwi­der­ruf­lich zu Ende geht. Zu ihren Kind­heits­er­in­ne­run­gen gehö­ren das Wur­zel­männ­chen Lussik, der Fin­del­hund, die ältere Schwes­ter, die Rück­kehr des Vaters aus dem Bür­ger­krieg. Ein Kind, das von den Kriegs- und Hun­ger­ge­sich­tern um sie herum weiß. Die Berg­holz berich­tet gera­dezu poe­tisch von einer Eisen­bahn­fahrt (völ­lig über­füllt), träumt von König Artus und hört im Halb­schlaf von Elek­tri­zi­tät und neuen Kraft­wer­ken spre­chen. »Oljuschka« ruft sie der Groß­va­ter. Die neue Hei­mat Petro­grad nähert sich, »..wie mit einem sechs­ten Sinn begriff ich, das alles würde jetzt für immer blei­ben, ewig leben­dig, ein Teil mei­ner selbst.«

Vom nun­meh­ri­gen Lenin­grad aus, nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion durch Trup­pen von 14 Mäch­ten blo­ckiert, geht man an die Ver­wirk­li­chung von »Goelro«, der Elek­tri­fi­zie­rung Sowjet­russ­lands. 32 Jahre danach reflek­tiert sie, wie das »große Buch«, also die ideale sowje­ti­sche Lite­ra­tur, auch ihr Buch, beschaf­fen sein soll. Und zitiert Maja­kow­ski-Gedichte (»Mit aller Stimm­kraft«) und erläu­tert die »Ikone« sozia­lis­ti­scher Jugend­li­te­ra­tur, N. Ost­row­skis »Wie der Stahl gehär­tet wurde«, lis­tet Fjo­dor Glad­kows Tri­lo­gie Roman der Kind­heit- Wol­niza-Schwere Zei­ten ebenso wie Maxim Gor­kis drei­fa­che Biografie.

Eine Reise in das Dorf ihrer Kind­heit beschwört diese poe­ti­sie­rend her­auf, dass mit dem neuen Kraft­werk auch Teile des­sen ver­schwin­den, geht unter bei ihr, wich­tig ist ihr das Betei­ligt­sein am sowje­ti­schen Leben, am Auf­bau des Kommunismus.

Die Berg­holz blen­det zurück, bald zur Blo­ckade von Lenin­grad, zunächst an den ver­fehl­ten Ver­such einer Groß­kom­mune erin­nernd, ver­spot­tet als »Zähre des Sozia­lis­mus«, aber auch ein Kul­tur­stern, wo Ernst Busch singt. Bald aber in die sowje­ti­sche Auf­bau­zeit, jäh unter­bro­chen durch »die Hit­lers«, das große Trauma einer gan­zen Gene­ra­tion rus­si­scher Men­schen. Viele ihrer Arbei­ten wer­den in der »Lite­ra­tur­naja Gazeta«, einer »im Wes­ten« stets ver­kann­ten sowje­ti­schen Kul­tur­zeit­schrift, veröffentlicht.

olga
Olga Berg­holz | Quelle

»Die Tages­sterne«, das hört sie von einem Leh­rer, im Gou­ver­ne­ment Now­go­rod, nahe der Wol­ga­quelle, kann man nur als Reflek­tion in einem sehr tie­fen Brun­nen sehen. Auch wenn sie sich täuscht, man diese Sterne viel­leicht nur aus dem Brun­nen sieht, S. 106 »Ich möchte, daß meine Seele, meine Bücher, daß mein für alle geöff­ne­tes Herz … die Tages­sterne spie­gelt und in sich birgt – … die See­len und Schick­sale mei­ner Zeitgenossen.«

Vie­les beein­druckt, am stärks­ten viel­leicht ihr müh­sa­mer Gang durch den Schutt des kriegs­zer­stör­ten Lenin­grads, zu ihrem Vater, einem Deut­schen(!), Arzt im Laza­rett, Opfer sei­ner Lands­leute ope­rie­rend, daher (S.110): »… das Ver­lan­gen mit scho­nungs­lo­ser Wahr­heit die mora­li­sche Erfah­rung unse­rer Epo­che wei­ter­zu­ge­ben.« Nicht leicht, muss sie ein Kapi­tel zuvor sich lang mit einer Denunza­tion gegen sich aus­ein­an­der­set­zen, womög­lich der Anlass ihrer Ver­fol­gung im Stalinismus.

Wie­der ein gro­ßer Sprung zurück in die Kin­der­zeit, zwei Groß­müt­ter, Pup­pen­ge­schirr und -stube, ein eltern­lo­ses, lese- und schreib­un­kun­di­ges Kin­der­mäd­chen, die dies schmerzt. Spä­ter erschrickt sie, ich baute die neue Gesell­schaft aus und habe nie etwas für meine Groß­mutter getan, die so viel für mich getan hat. Den­noch ergrei­fen­der Abschied von ihr, denn Olga muss fort, im Lenin­gra­der Rund­funk spre­chen, eine Über­le­bens­quelle ihrer Zuhö­rer in der Blockade.

Aber auch Eltern­schei­dung, der späte Besuch beim Vater, nun alleine im gro­ßen Eltern­haus, im Arbeits­rausch durch­wach­ten Nächte im Werk. Der Tod ihrer unge­bo­re­nen Töch­ter, die Zeit 1937-39, Ver­haf­tung und Fol­ter, Tod des ers­ten Man­nes, der zweite wäh­rend der Blo­ckade ver­haf­tet, ich schreibe es aus der Wiki, sie berich­tet »nur« vom Kin­der­tod und von (S. 129): ».. schwere Zeit von 1937 bis 1939«, unver­wisch­bare Spu­ren im Bewusst­sein hinterlassend.

In der Blo­ckade die abge­wor­fe­nen Flug­blät­ter der Deut­schen, »erwar­tet die Sil­ber­nacht..«, Nazi-Poe­sie für geplan­tes Bom­ben­ver­bre­chen, ein dum­mer Ket­ten­brief viel­leicht von russ. Quis­lin­gen im Trep­pen­haus, Angst im Bom­ben­ha­gel ums Eltern­haus, sie schreibt wenig Pro­pa­ganda, sie schreibt viele, nicht alle, Wahr­hei­ten. Reflek­tion ihrer Schreib­ent­wick­lung, Gedicht-Liebe als Kind, Pusch­kin, Ler­mon­tow, magi­sche Worte über die Poe­sie, stär­ker als Bom­ben, das ist wär­mend auf Seite 170-72. Anfang Februar ’42, in schlimms­ter Hun­ger­zeit, geht sie als Dys­tro­pho­bi­ke­rin, durch das hun­gernde, hal­ber­starrte Lenin­grad, um ihren Vater zu besu­chen. Sie hat wäh­rend der Blo­ckade ein ein­zi­ges Mal geweint, als ihr Mann im Kran­ken­haus starb. Sie geht auch ihre lan­gen Wege zum Funk­haus (Ver­kehrs­mit­tel gab es nicht mehr), inner­lich in Etap­pen ein­ge­teilt, bis zum Bahn­hof, zum nächs­ten Later­nen­pfahl, bis zur ».. Reihe an tote Men­schen gemah­nende O-Busse«, kämpft einen Hun­ger­an­fall nie­der, nein ich esse erst am Lenin­werk. Und sie begnet immer mehr Men­schen, die einen Sarg – mit Ange­hö­ri­gen – hin­ter sich her schlep­pen, trau­rige Kriegs-Blo­ckade-Men­schen-Lei­chen­fracht. Ange­kom­men erkennt sie noch das äußere des Ambu­la­to­ri­ums ihres Vaters, ihren Vater aber, im Hun­ger, erkennt sie nicht mehr. – Wie­der eine Rück­blende, es gab einst die »Fürs­tin War­wara«, aus der Zaren­zeit, die aber ihren Vater in Revo­lu­tion und Inter­ven­ti­ons­krieg als Kran­ken­schwes­ter beglei­tete. Eine Fürs­tin aber war für Kin­der die höchste aller Sagen­ge­stal­ten. Und eben diese Fürs­tin kommt in der Not und Nacht der Blo­ckade an das Toten­bett des Vaters, um ihn zu pfle­gen. Olga aber ist eigent­lich zu ihm gegan­gen, um über den Tod ihres Manns Niko­lai zu spre­chen. Und lernt vom Vater die bit­tere Wahr­heit über Fami­lie und Eltern­haus, beklem­mend. Aber sie blickt auf seine Hände: »Hände, die Licht und Kraft aus­ström­ten, die das Geheim­nis der Erde kann­ten..« Am Ende des Vaters, am Schluss ihres Buchs steht bei der Berg­holz die »Indi­sche Para­bel« von Aus­zug und Rück­kehr des Menschen.

Die Berg­holz, oszil­lie­rend in ihren Erzäh­lun­gen zwi­schen Kin­der­ta­gen, Sowjet-Auf­bruch, Nazi-Über­fall, Sta­lin-Berija Ter­ror, ist eine Poe­tin his­to­ri­scher Zeit. Sie hat Gefühle einer, ihrer Gene­ra­tion, in Wort­ge­füh­len bewah­ren kön­nen, Schö­nes aus oft schreck­li­cher Zeit. Ein Beleg, wie Schöp­fe­ri­sches über der Nacht steht, Tagessterne.

Ein­dring­lich

Link zu Lebens­lauf und Lyrik der Bergholz

2019 rezensiert, Blockade, Geschichte, Leningrad, Nazis, Russland, Sowjetunion, Stalinismus, UdSSR, Zweiter Weltkrieg